Vertiefungsartikel: Unterschiede zur Privatwirtschaft und Umsetzung in der Praxis
Unterschiede zwischen Ambidextrie in der Privatwirtschaft und in der öffentlichen Verwaltung
Während in der Privatwirtschaft die Ambidextrie - die Fähigkeit, sowohl die bestehenden Geschäftsmodelle zu optimieren als auch gleichzeitig neue innovative Ansätze zu verfolgen - erfolgreich angewendet werden kann, gestaltet sich dies im öffentlichen Sektor schwieriger.
Der Hauptgrund dafür liegt in den fundamentalen Unterschieden zwischen öffentlicher Verwaltung und Unternehmen. Die Aufgabe der öffentlichen Verwaltung, ist das Funktionieren des gesellschaftlichen Systems, nach Maßgabe der Exekutive, zu gewährleisten. Sie trägt somit maßgeblich zur Stabilität und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bei und unterliegt “einer demokratisch legitimierten politischen Steuerung und Kontrolle” (Bogumil, 2022). Im Gegensatz zu Unternehmen stehen öffentliche Verwaltungen unter dem Druck, dass die Erfüllung ihrer Aufgaben der Umsetzung geltenden Rechts und der Vorgaben aus der Exekutive zugunsten der Gemeinschaft entspricht. Profitorientierung oder Gewinnmaximierung sind nachrangig und eher im Kontext des effizienten Umgangs mit öffentlichen Geldern zu sehen.
Ein weiterer entscheidender Unterschied liegt im Finanzierungssystem: Während Unternehmen durch private Gelder finanziert werden, sind öffentliche Verwaltungen auf Steuereinnahmen angewiesen, was sie einer verstärkten öffentlichen Kontrolle und kritischen Beobachtung aussetzt. Diese öffentliche Aufmerksamkeit führt dazu, dass jede Innovation oder Veränderung sorgfältig geprüft und nachvollziehbar sein muss, um das Vertrauen der Bürger nicht zu gefährden.
In der Wirtschaft wird oft nach dem Motto "Move fast and break things" gehandelt, was bedeutet, schnell zu handeln und im Nachhinein Fehler zu beheben. Doch in öffentlichen Verwaltungen, wo es unter anderem um die Auszahlung von Sozialleistungen, die Dokumentation von Eigentum und die Bereitstellung öffentlicher Güter geht, können Fehler schwerwiegende Konsequenzen haben und das Vertrauen in die Institutionen untergraben. Die spezifischen Anforderungen, die Kontextabhängigkeit und die hohe Verantwortung gegenüber der Gesellschaft erfordern eine differenzierte Herangehensweise und eine vorsichtige Umsetzung von Innovationen in diesem Bereich.
Dennoch müssen auch öffentliche Verwaltungen disruptive Veränderungen vornehmen, was unter anderem im Kontext der Digitalisierung deutlich wird. In den letzten Jahren hat sich die Forschung zunehmend auch der Frage gewidmet inwiefern Ambidextrie und vor allem der Explore-Modus auch in öffentlichen Verwaltungen anwendbar ist (siehe u.a. Cannaerts et al., 2019 und Peng, 2019).
Umsetzung in der Praxis: Die Bedeutung von Führung und Kultur
Die gute Nachricht ist: Jede Organisation ist bereits in gewisser Weise ambidexter. Die passenden Werkzeuge und Ansätze für beide Modi sind in der Regel schon vorhanden, und das sogenannte ambidextre Potenzial kann gefördert und genutzt werden.
Studien (v.a. Next:Public GmbH, Bleibebarometer, 2022) zeigen, dass Mitarbeitende in Verwaltungen oft gut vernetzt sind und über ein großes Fachwissen verfügen – beides fördert exploratives Verhalten. Zudem empfinden Mitarbeitende im öffentlichen Dienst ihre Arbeit als sinnvoll für die Gemeinschaft, was zu einer stabilen intrinsischen Motivation führt. Sie wechseln seltener den Arbeitgeber, was bedeutet, dass man Zeit hat, Neues zu lernen und Prozesse sowie Strukturen zu verändern, ohne dass wertvolle Erfahrungen verloren gehen.
Führungskräfte spielen hierbei eine zentrale Rolle. Sie müssen das ambidextre Potenzial ihrer Organisation erkennen und die Ausprägungen der Ambidextrie entsprechend den strategischen und operativen Zielen bewusst steuern. Ob sie dies selbst im Detail umsetzen oder wichtige Aspekte des Change- und Wissensmanagements an Mitarbeitende mit neuen Rollen und Funktionen delegieren, hängt von der Situation der Organisation und der angewandten Form der Ambidextrie ab – sei es sequenziell, kontextuell oder strukturell.
- Zur Förderung einer Kultur, die ambidextren Strukturen zuträglich ist, können in vielen öffentlichen Verwaltungen zunächst gängige Aspekte der Mitarbeitendenführung gestärkt werden. Mitarbeitende im öffentlichen Dienst sehen u.a. in folgenden Bereichen Entwicklungsbedarf (Next:Public, 2022). Anerkennung der Expertise und Motivation der Mitarbeitenden, z.B. durch regelmäßiges Feedback und Einbindung motivierter Personen in explorative Maßnahmen und Prozesse
- Raum für Änderungswünsche schaffen und diese Wünsche anhören
- Eine positive Fehlerkultur fördern – Fehler in explorativen Kontexten als Erkenntnisse und nicht als Regelverstöße verstehen
Während durch Führungskräfte an der Organisationskultur gearbeitet werden kann, ist wichtig zu berücksichtigen, dass das Experimentieren der Mitarbeitenden mit Fokus auf Exploration die Abläufe in den Exploitation-Bereichen gefährdet. Umgekehrt können starre Routinen in Bereichen wie Verwaltung und Produktion so dominant werden, dass Experimentieren und Erkundung neuer Wissensgebiete auch in explorativen Abteilungen gehemmt werden. Um dies zu verhindern, findet sich in der Literatur u.a. der Hinweis, dass Einheiten mit Fokus auf Exploitation durch strukturelle Ambidextrie räumlich und prozessual von solchen mit Fokus auf Exploration getrennt werden könnten. In einem solchen Setting müssen jedoch Verbindungen und Möglichkeiten für den Austausch zwischen diesen Bereichen geschaffen werden, um gegenseitiges Lernen zu ermöglichen (vgl. u.a. Brem & Rost, 2023).
Bei genauerem Hinsehen ist eine eindeutige Unterteilung in Teams/Abteilungen o.ä. mit reinem exploit-Arbeitsmodus und solche mit reinem explore-Modus erfahrungsgemäß schwierig. In den meisten Teams/ Abteilungen dürfte von beiden Modi etwas gefragt sein.
Organisationen brauchen eine jeweils für ihre Zielstellungen passende Balance von Explore und Exploit, die zielführendsten Ansätze sind strukturelle und kontextuelle Ambidextrie. Stellt sich die Frage: wie kommt man zu einer ambidexter ausbalancierten Organisation? Mit dieser Frage hat sich auch eine schwedische Studie (Palm & Lilja, 2017) befasst: Es gibt nicht "den einen Weg" – die Untersuchung zeigt auf, dass im öffentlichen Sektor häufig eine Facette der "Strukturellen Ambidextrie" anzutreffen ist, beispielsweise in Form von Innovation Labs. Die Studie hat zudem neun Gelingensbedingungen für Ambidextrie im öffentlichen Sektor herausgearbeitet. Obwohl einige der genannten Punkte bereits oben erwähnt wurden, führen wir der Vollständigkeit halber hier die gesamte Liste der relevanten Schlüsselfaktoren auf:
Schlüsselfaktoren für eine ambidextre Verwaltung
- Mitarbeitenden-Zentrierung: Eine Organisation sollte ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse und Situationen der Mitarbeitenden haben, sodass die Nutzerperspektive als Ausgangspunkt für alle Prozesse dienen kann.
- Ambidextrie-Kenntnisse der Führungsebene: Führungskräfte müssen das Konzept der organisationalen Ambidextrie verstehen und deren Bedeutung von Exploit- und Explore-Modus kommunizieren.
- Effektiver Dialog: Gute Kommunikation zwischen allen Beteiligten der Explorations- und Exploitationsprozesse ist entscheidend, insbesondere bei der Umsetzung von Explorationsergebnissen in die Arbeitsprozesse.
- Botschafter:innen: Diese fördern neue Produkte, Prozesse oder Dienstleistungen und unterstützen die Integration explorativer Elemente in bestehende Arbeitsprozesse. Sie stehen in enger Verbindung mit dem darüber genannten Faktor des effektiven Dialogs.
- Fehlerkultur: Eine Kultur, die es Mitarbeitern erlaubt, Risiken einzugehen und möglicherweise auch Fehler zu machen, um ein exploratives Umfeld zu schaffen, in dem neue Ideen ausprobiert werden können.
- Gezieltes Budget: Bereitstellung spezifischer Ressourcen für sowohl explorative als auch exploitative Aktivitäten.
- Systemisches Verständnis: Mitarbeitende sollten ein umfassendes Verständnis für die Struktur des Systems und die Beziehungen zwischen den Elementen haben.
- Fokus auf Umsetzung: Der Schwerpunkt sollte von der Ideenfindung auf die tatsächliche Implementierung von Innovationen verlagert werden. Oftmals liegt zu viel Fokus auf der Ideenfindung und zu wenig auf der Umsetzung.
- Anreize: Die Organisation sollte klare Ziele und Messgrößen für sowohl Exploration als auch Exploitation festlegen und bewerten.
Diese Schlüsselelemente sind entscheidend, um eine ausgewogene Organisation zu schaffen, die sowohl Exploration als auch Exploitation fördert und damit den Wert für Kunden und die Effektivität der Verwaltung insgesamt steigert.
Quellen:
Brem, A., & Rost, M. (2023). Ambidextre Projektstrukturen für eine agile Hochschulverwaltung: Das Agility Lab der Universität Stuttgart. Wissenschaftsmanagement, 2023, 1-6.
Bogumil, J. (2022, 3. August). Öffentliche Verwaltung. bpb.de. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/511486/oeffentliche-verwaltung/
Cannaerts, N., Segers, J. & Warsen, R. (2019). Ambidexterity and Public Organizations: A Configurational Perspective. Public Performance & Management Review, 43(3), 688–712. https://doi.org/10.1080/15309576.2019.1676272
Next:Public. (2022). Bleibebarometer Öffentlicher Dienst: Eine Befragung zu Bindungsfaktoren in der Verwaltung. In Next:Public. Abgerufen am 19. Juni 2024, von https://nextpublic.de/bleibebarometer-oeffentlicher-dienst/
Palm, K. & Lilja, J. (2017). Key enabling factors for organizational ambidexterity in the public sector. International Journal Of Quality And Service Sciences, 9(1), 2–20. https://doi.org/10.1108/ijqss-04-2016-0038
Peng, H. (2019). Organizational ambidexterity in public non-profit organizations: interest and limits. Management Decision, 57(1), 248–261. https://doi.org/10.1108/md-01-2017-0086