Die Einstellung eines Produkts (Interview mit Fränzi Kühne)
Einstiegsartikel: Exnovation
Vorüberlegungen:
Der Organisationsforscher Peter Drucker hat sich im Kontext mit Innovationsförderung mit der Frage befasst, wie man die vorhandenen Ressourcen sinnvoll auf das lenken kann, was wirklich wertschöpfend ist. Schon 1985 hat Drucker folgenden Ratschlag formuliert:
“There is only one way to make innovation attractive to managers: a systematic policy of abandoning whatever is outworn, obsolete, no longer productive, as well as the mistakes, failures, and misdirections of effort. Every three years or so, the enterprise must put every single product, process, technology, market, distributive channel, not to mention every single internal staff activity, on trial for its life. It must ask: Would we now go into this product, this market, this distributive channel, this technology today? If the answer is "No," one does not respond with, "Let's make another study." One asks, "What do we have to do to stop wasting resources on this product, this market, this distributive channel, this staff activity?" (Drucker, 1985, S. 151f.)
Das Einstellen von Produkten ist im Unternehmenskontext wohl einer der bekanntesten und auch eindeutigsten Exnovationsvorgänge: Produkte, die am Ende des Produktlebenszyklus angekommen sind und vom Markt nicht mehr abgenommen werden, werden eingestellt. Diese Art von Exnovation ist durch Gewinn- und Effizienzmotive geleitet und steht damit im Einklang mit dem übergeordneten Zweck von Firmen, Gewinn zu erwirtschaften. Üblicherweise geht eine Einstellung mit einer längeren Planung einher und es gibt entweder bereits ein Nachfolgeprodukt oder der Geschäftszweig wird inklusive aller Infrastruktur völlig aufgegeben/rückgebaut. Dies ließ sich beispielsweise an Apples „iPod“ beobachten. Der zu seiner Zeit revolutionäre MP3-Player war viele Jahre lang in Sachen Design und Funktion der Platzhirsch auf dem Markt und ebnete durch die Verknüpfung mit iTunes den digitalen Streamingdiensten den Weg. Durch die Verbreitung von Smartphones wurde die Funktion des schließlich iPod überflüssig. Schon um 2010 überstiegen die Verkaufszahlen von iPhones die der iPods (Merkel-Gyger, 2022). Dennoch hielt Apple bis 2022 am ikonischen Produkt fest, bis es schließlich mit einem emotionalen Statement verabschiedet wurde. Solche „Ablöseprozesse“ finden sich vielfach, wobei das Verhältnis zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“ sowie die Frage, ob und wie lange man an etwas festhalten sollte, oft erst im Nachgang wirklich beantwortet werden kann. Das viel gescholtene Beispiel Kodak hat deutlich gemacht, wie man das Prinzip vom Kopf auf die Füße stellen kann: Obwohl das neue Produkt – die digitale Fotografie – schon verfügbar war, entschied Kodak, den analogen „Vorgänger“ eben nicht zu exnovieren, sondern an der analogen Fotografie festzuhalten, nur um wenig später recht hilflos dabei zusehen zu müssen, wie andere Anbieter an Kodak vorbeizogen. Dass sich die analoge Fotografie zumindest für die Masse anschließend von selbst „exnoviert“ hat, ist uns allen aus dem Alltag bekannt. Das Prinzip der „Kannibalisierung“ eigener Marktanteile wird oft als wichtige Disziplin für Wachstum und Erneuerung angesehen (Merunka, 2010).
Lassen wir nun Fränzi Kühne, Chief Digital Officer der edding AG, zu Wort kommen. Sie berichtet uns über ein eingestelltes Produkt (Nagellack), das im Frühling 2023 nach etwa acht Jahren im Rahmen eines gezielten und bewussten Prozesses eingestellt wurde.
Wo in deinem Arbeitskontext sind dir schon Spuren von Exnovation begegnet?
Ich arbeite bei Edding, einem Familienunternehmen mit 60 Jahre Historie. Das trägt natürlich kulturell viele Dinge aus der Vergangenheit in sich, die irgendwann überholt und nicht mehr zeitgemäß sind. Wir kennen alle den Satz „haben wir schon immer so gemacht“ und den hört man an vielen Stellen. Das heißt, dass wenig hinterfragt wird, obwohl man sich absolut die Frage stellen soll und muss, was noch richtig und zeitgemäß ist.
Bei uns haben sich unterschiedlichste Projekte rund um das Thema „Aufräumen“ gebildet, jeweils mit einer konkreten Zielstellung. Ein aktuelles Projekt beschäftigt sich z. B. mit der Effizienz von Prozessen. Der Hintergrund ist, dass innerhalb eines Konzerns mit der Zeit immer Ineffizienzen entstehen. Wir haben uns dafür im Rahmen eines Projekts den Raum genommen, weil man im Alltag auch viel zu selten dazu kommt, gelebte Praxis zu hinterfragen.
Im gleichen Zug geht es aber auch um das Hinterfragen von Arbeitsweisen, was weit über das rein akademische Wissen hinausgeht – wir wollen den Transfer in konkretes Arbeitshandeln fördern, was auch einen kulturellen Aspekt beinhaltet, der leider meist übersprungen wird.
Hast Du ein konkretes Beispiel für eine gelungene Exnovation?
Ja, bei unseren Edding Nagellacken. Wir haben uns die Frage gestellt, welche Produkte wir überhaupt haben und wo es „Leichen im Keller“ gibt, wie eben z. B. bei den Edding Nagellacken. Der Schnitt war dann aber doch schwer, weil es für viele Personen ein Herzensprojekt war, bei dem mal wirklich was komplett anderes gemacht wurde. Am Ende haben die Zahlen leider dafür gesprochen, dass es nicht mehr funktioniert. Gerade weil so viel Herzblut drin steckte, hat man das vorher nicht so genau hinterfragt. Vielleicht spielt auch ein kultureller Aspekt mit, denn der Vorstand war bei diesem Projekt stark involviert. Damit herrschte Unsicherheit, ob man – trotz Zweifel – an diesem Thema rütteln durfte.
Wie ist denn das Nagellack-Produkt bei Edding überhaupt entstanden?
Es gibt unterschiedliche Formate bei Edding, wo immer wieder divers zusammengesetzte Gruppen gemeinsam überlegen, was neue Produkte oder neue Geschäftsfelder sein könnten. Das Ergebnis können auch Investments sein oder der Zukauf von Produkten oder Dienstleistungen. Im Fall der Nagellacke war es eben eine Eigenentwicklung. Der Hintergrund: Edding steht für Tintenkompetenz und eine Kernfrage in einem dieser Formate war: Was kann man eigentlich alles bemalen? In der Grundschulzeit war es mal in, sich mit Edding die Fingernägel zu bemalen und so war die Nagellack-Idee geboren. Natürlich wurde eine Marktstudie durchgeführt und mit der Bestätigung, dass es dafür einen Markt gibt, fiel 2015 der Startschuss.
Am Ende hat das Produkt dann doch nicht funktioniert – wie kam das?
Ich denke nicht, dass es am Produkt selbst lag, denn das Produkt ist von der Qualität her super gewesen. Auch die Markteinschätzung war nicht verkehrt. In der Gesamtbetrachtung wurde aber der Aufwand unterschätzt, der eingebracht werden muss, um einen komplett anderen Markt zu erschließen. Es ist eben nicht die Schreibwaren-Branche, sondern wir sind in der Kosmetikbranche, die nach anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Hier muss Budget in Medien, Marketing, ins Netzwerk und eine andere Art von Vertrieb fließen. Das wurde zu Beginn so nicht gesehen.
Was kannst du über diesen Ausstiegsprozess sagen? Wie fing er an, wie hat er sich entwickelt?
Zwischen den Zeilen und hinter vorgehaltener Hand haben schon relativ zeitig Menschen den Verdacht geäußert, dass es nicht funktioniert oder zumindest nicht so anläuft, wie man erwartet hat. Allerdings wurde auch kein richtiger Business Case draus entwickelt, der auf einer tragfähigen Zahlenbasis gründet. So blieb es eher bei Vermutungen und aus dem bereits beschriebenen Aspekt heraus, dass Per Ledermann als CEO das Thema vorangetrieben hatte, hat man das Thema Nagellacke nicht so deutlich kritisiert.
Wir haben ab 2022 z.B. in Gesprächen mit Externen gehört, dass sie gar nicht wussten, dass Edding Nagellacke herstellt – ein weiteres Indiz für uns, dass wir nicht die benötigte Reichweite hatten mit dem Produkt. Mit der Zeit war auch das Team, das anfänglich die Nagellacke vorangetrieben hatte, gar nicht mehr zusammen, so dass wir uns irgendwann entschieden haben, das Projekt als gescheitert zu erklären und zu beenden. Es lief immerhin acht Jahre, das war ja doch eine respektable Zeit.
Welche internen Reaktionen gab es auf diese Entscheidung?
Da war natürlich ein buntes Potpourri. Es gab Menschen, die dieses Produkt geliebt und jahrelang daran mitgearbeitet haben. Für die war das traurig, ihnen ist was weggebrochen, womit sie sich stark identifiziert haben. Auf der anderen Seite gab es Menschen aus der Logistik, die die ganze Zeit palettenweise die Bestände herumschieben mussten, ohne dass ausreichend viel davon verkauft worden wäre. Die haben sich eher gefreut und waren erleichtert, dass endlich die Entscheidung getroffen wurde. Es gab also die ganze Bandbreite an Meinungen, die wir auch entsprechend andressieren wollten. Wir haben alle, die wollten, in die Kommunikation mit eingebunden und ein internes Projekt daraus gemacht. Es gab z. B. ein Video, bei dem besonders diejenigen, die viel Arbeitszeit und auch Leidenschaft in das Produkt gesteckt haben, geäußert haben, wie schade sie das Ende finden und warum sie trauern. Es ist ja ein Aspekt des Scheiterns damit verbunden, den wir ganz offen adressieren wollten.
Was wäre passiert, wenn Ihr nicht aus dem Produkt in dieser aktiven Form ausgestiegen wärt?
Ich glaube, das würde heute noch so mitlaufen. Es war schon eine sehr bewusste, klare und forcierte Entscheidung, mit der auch aus Richtung des Vorstands gezeigt werden sollte: Wir handeln konsequent, wir treffen Entscheidungen – auch dann, wenn es schwierige sind. Wir verfolgen eine bestimmte Strategie und schneiden alte Zöpfe ab, wenn es nötig ist. Wir haben mit diesem Schritt die allseits bekannte Marschrichtung „haben wir schon immer so gemacht“ gleich mitbeerdigt und einer neuen innovativen Kultur den Weg bereitet.
Wie wurde die Exnovations-Entscheidung umgesetzt?
Wir waren dann relativ schnell. Innerhalb von ein, zwei Monaten war die Entscheidung klar und wir haben uns eine Kampagnenrahmen überlegt, innerhalb dessen wir zu diesem Thema in die Kommunikation gehen wollten. Außerdem haben wir uns Gedanken über die restlichen Bestände und den Abverkauf gemacht, damit auf keinen Fall was weggeworfen werden musste.
Gleichzeitig haben wir sehr konkret einen „Sink or Sail“-Modus für die restliche Firma angestrebt: Was nicht lossegelt, das versenken wir aktiv. Und der Erfolg musste ab diesem Zeitpunkt einigermaßen deutlich erkennbar sein und nicht nach Bauchgefühl beurteilt werden. Gemäß dem schönen Satz „Die Hoffnung ist des Kaufmanns Tod“ haben wir uns stark dafür eingesetzt, passende KPI und eine hilfreiche Zahlenbasis zu entwickeln, die uns gute Entscheidungen ermöglicht. Der Nagellack war der Auftakt für diesen Richtungswechsel, aber im Anschluss wurden noch weitere Produkte und Initiativen nach diesem Muster beleuchtet. Wir sind bestrebt, das Zahlenwerk nicht zu übertreiben, denn neue Ideen und innovative Produkte leben von Fantasie – die kann man gerade zu Beginn des Prozesses nicht mit einem Zahlenwerk messen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt dann aber sehr wohl. Dann muss es fliegen, oder wir trennen uns davon.
Würdest du sagen, Ihr seid für den nächsten Exnovations-Fall besser aufgestellt?
Auf jeden Fall! Wir hatten schon den nächsten Fall, nämlich unsere Compact-Printer-Sparte. Wir haben relativ geräuschlos zum Anfang des Jahres den kompletten internationalen Vertrieb an einen Partner übergeben und somit die Abteilung bei uns intern eingestellt. Das ist noch nicht lange her. Der Fall war anders gelagert als die Nagellacke, weil es eine bestehende Business Unit betraf, die abgebaut werden musste. Auch hier war die gute interne Kommunikation wichtig, und zu erklären, warum wir diese Entscheidung treffen. Es kam aber auch nicht überraschend. Denn nachdem wir schon ein Jahr „Sink or Sail“ hinter uns hatten, wussten alle Beteiligten, dass das Thema auf dem Prüfstand steht. Außerdem haben wir versierte Leute zur Unterstützung der Kommunikation eingebunden, was sich als sehr hilfreich herausgestellt hat.
Wenn Du mal an „weichere“ Themen wie kulturelle Aspekte oder Kooperationsgewohnheiten denkst: Würdest Du einschätzen, dass man die „Sink or Sail“-Logik darauf auch anwenden kann?
Das ist ein Riesenkomplex, weil in der gesamten Arbeitswelt gerade so viel im Umbruch ist und die Frage berührt, wie wir zusammenarbeiten, wie wir Arbeit organisieren. Ein Beispiel dafür ist die bei uns anstehende Ablösung des Intranets und damit verbunden die Umstellung auf Teams. Wir bearbeiten das Thema ähnlich, wieder mit einer Kampagnenlogik, in der Kommunikation im Zentrum steht. In dem Zuge müssen viele Fragen ge- und erklärt werden: Warum machen wir das eigentlich? Wer ist davon wie betroffen, wen holt man zuerst ab, welche Gruppen können die neue Lösung als erstes übernehmen und vorleben? Bei Edding gibt es Menschen, die teilweise schon 20 oder 30 Jahren dabei sind. Es ist nur fair, auch diese Personen ordentlich abzuholen und in alles einzubinden, was so passiert. Und natürlich darf und soll die Ansprache sich von der unterscheiden, die man an Azubis Anfang 20 richtet, die die ganze Zeit schon mit Teams gearbeitet haben und es eigentlich gar nicht anders kennen. Diese kommunikative Meile muss man gehen, man kann das nicht verschulen. Klar kann man Trainings machen, aber die Übernahme und das aktive Leben einer neuen Lösung sind etwas komplexer und das Befassen damit erfordert von allen Beteiligten ständige Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Da reichen ein paar Wandtattoos mit neuen Werten einfach nicht aus.
Bonusfrage: Was hält du von der Idee, an Dinge (Produkte, Prozesse, etc…) ein vorläufiges Ablaufdatum zu heften? Wenn dieses Datum gekommen ist, wird das Ding wieder abgeschafft, es sei denn, man hat wirklich sehr gute Gründe, es zu behalten.
Finde ich total super. Das würde das Verständnis erleichtern, dass nichts für die Ewigkeit ist. Man hat ja jederzeit die Option, etwas länger laufen zu lassen, aber man hat den Anlass schon eingebaut, einen kritischen Blick auf die Lage zu werfen.
Das Interview ist ein Auszug aus dem Buch Innovation & Exnovation, Bils, Töpfer, 2024, Kapitel 5.2.1: S. 149-253