1. Was hat Kultur mit Ambidextrie zu tun?

Man kann mit gutem Recht sagen, dass gelebte Ambidextrie sich eindeutig in der Unternehmenskultur widerspiegelt. Wenn man einen einzigen Wert benennen sollte, der im Zentrum der ambidextren Kultur steht, so wäre es die Ambiguitätstoleranz. Damit ist nicht nur die Akzeptanz verschiedener Sichtweisen gemeint, sondern die Akzeptanz von Sichtweisen, die in sich widersprüchlich sind. Wie unterschiedlich der Explore- und der Exploit-Modus sind, wurde schon an anderer Stelle aufgezeigt. Deshalb sei an dieser Stelle versucht, an einem ausgewählten Beispiel, nämlich dem der Steuerung von Unternehmensentscheidungen, in die Tiefe zu gehen:

Viele werden das Zitat „if you can’t measure it you can’t improve it“ schon mal gehört haben. Es wird wahlweise Peter Drucker oder W. Edwards Deming zugeschrieben und beschreibt schön eine typische Exploit-Denke: Faktoren wie Fortschritt, Erfolg, Ergebnis und Ziele können in dieser Denke in Zahlen ausgedrückt werden und die Entwicklung der Zahlen erlauben dann in der Folge ein Urteil. Diese Denke ist seit vielen Jahren in der DNA von Firmen verankert – kein Wunder, müssen sie doch „gute Zahlen“ präsentieren, um sich nicht im schlimmsten Fall der Insolvenzverschleppung schuldig zu machen. Da liegt der Gedanke nahe, relevante Indikatoren zu identifizieren und ein „Frühwarnsystem“ zu etablieren, um die Zahlen in die richtige Richtung beeinflussen zu können.

An dieser Stelle sei das Zitat genannt, aus dem sich das obige heraus angeblich entwickelt hat: "It is wrong to suppose that if you can’t measure it, you can’t manage it — a costly myth." Dieses Zitat wird recht eindeutig W. Edwards Deming zugeschrieben und sagt inhaltlich ziemlich genau das Gegenteil vom obigen Zitat und geht somit eher in die Richtung der Explore-Denkweise: Es ist eben genau keine Voraussetzung, dass man möglichst viel und präzise messen und in ein Zahlenwerk gießen kann, um den Fortgang der Dinge im positiven Sinne zu beeinflussen. Im Gegenteil: Wenn man es trotzdem tut oder sich darum bemüht, läuft man Gefahr, einem kostspieligen Mythos anzuhängen.

Beide Denkweisen lassen sich in der Ambidextrie wiederfinden: Die erstgenannte finden wir im Exploit-Modus wieder, der Teile der Organisation wie gut geölte Maschinen ansieht, die präzise gesteuert und deterministisch angeleitet/geführt werden. Hier, z. B. in Produktionsumgebungen, können Zahlen gut wirken, ergeben Sinn und fungieren deshalb als geteilte Basis für Entscheidungen. Sie bilden damit eine Handlungsgrundlage und eine entsprechende Kultur entsteht rund herum: Sie ist geprägt von der Orientierung an klaren Regeln. Abweichungen sind in aller Regel unerwünscht, somit wird der Handlungsfreiraum für die einzelnen Personen kleiner. Zuarbeit muss präzise und nach festgelegten Prozessen erfolgen, wenn sie gelingen soll, der Wunsch nach „klaren Schnittstellen“ und definierten Übergabepunkten ist ein oft diskutiertes Thema.

Kontrastiert man hingegen die zweite Sichtweise, so tut sich ein ganz anderes Feld auf. In „unerforschten“ Gebieten gibt es wenig Klarheit, ein belastbares Zahlenwerk existiert schlicht (noch) nicht. Um einem noch nicht so recht greifbaren Thema beizukommen, ist das Orientieren an etablierten Spielregeln nicht möglich. An diese Stelle treten individuelle Beiträge aus möglichst verschiedenen Richtungen, die oft auch kontrastreichen Sichtweisen auf das Thema werden im Diskurs ausgehandelt. Dazu gehört, einen Raum psychologischer Sicherheit (psychological safety) zu öffnen, in dem alle Beteiligten ihre Gedanken äußern können. Irrtümer können offen besprochen werden, denn aus ihnen ergeben sich oft wiederum neue Wissensbausteine, die für den weiteren Weg wertvoll sein können.

Allein in diesem Aspekt der Steuerung zeigt sich, wie widersprüchlich die beiden „Kulturen“ sind, die in der Ambidextrie wirken. Von diesen unterschiedlichen Faktoren mit Bezug zur Kultur gibt es noch etliche mehr: Die Feststellung von Leistung, Identifikation von Erfolg, Messen von Fortschritt, gute Führung, Merkmale guter Kooperation, Treffen von Entscheidungen und die Übernahme der Verantwortung, das Zuweisen passender Ressourcen. Akzeptiert man die Prämisse, dass Unternehmen beide Modi einsetzen und beherrschen müssen, wird deutlich, wie stark sich Ambidextrie in der Organisationskultur zeigen muss, um erfolgreich zu sen.

2. Wie fühlt sich ambidextre Kultur an?

Wenn man die Ambiguitätstoleranz als zentralen Wert innerhalb der Ambidextrie setzt, so kann diese Frage wie folgt beantwortet werden: Eine ambidextre Kultur ist davon gekennzeichnet, dass widersprüchliche Sichtweisen/Werkzeuge und Methoden parallel in einer Organisation existieren können, ohne dass aus der entstehenden Spannung Konflikte entstehen.

Dafür ist nötig, dass die widersprüchlichen Modi gesehen und ihr Beitrag zum Organisationserfolg akzeptiert werden. Vereinfacht gesagt akzeptieren exploit-orientiert arbeitende Personen, dass in einer explore-orientierten Arbeitsumgebung „andere Spielregeln“ gelten, was sich im Einzelfall unfair oder ungerecht anfühlen kann – und umgekehrt natürlich genauso.

Wenn man Unternehmenskultur als die Sammlung an geteilten Werten und handlungsleitenden Überzeugungen innerhalb einer Organisation auffasst, könnten sich ambidextriebezogene Konflikte beispielsweise so anhören:

O-Töne aus der Exploit-Sichtweise:

  • Diese Bastler (Explorer)… probieren nur herum und werden nie fertig.

  • Die dürfen testen und scheitern, für uns gibt es nur Regeln und Vorschriften.

  • Die überlegen sich jeden Tag neu, was sie heute machen wollen, ich hab diese Freiheit nicht.
  • Wir erarbeiten das Geld, das in diesen wilden Experimenten großzügig ausgegeben wird – bei uns wird dagegen gespart, wo es nur möglich ist.

O-Töne aus der Explore-Sichtweise:

  • Die (Exploit-Arbeitenden) haben wenigstens eine klare Marschrichtung, was sie tun sollen.
  • Wenn wir doch wenigstens jetzt schon wüssten, ob wir den richtigen Weg eingeschlagen haben – diese Unsicherheit ist anstrengend.
  • Ich wüsste zu gerne, ob wir den richtigen Weg eingeschlagen haben.

  • Wir sind schon so oft gescheitert, es wird mal Zeit für einen Erfolg.

Zugegeben sind das – des Kontrastes wegen – sehr zugespitzte Aussagen. Aber sie zeigen, wo das kulturelle Konfliktpotenzial liegt, wenn die beiden Modi unkommentiert und auch unmoderiert nebeneinander stehen bleiben. Eine reife ambidextre Kultur könnte sich hingegen in folgenden Aussagen manifestieren:

  • Ich fühle mich in meiner Ecke wohler, aber was die anderen machen, hat natürlich seine Daseinsberechtigung.
  • Die haben es auch nicht leicht, müssen ständig tüfteln und mit Frust klarkommen / müssen sich an alle Spielregeln halten und können nicht einfach abweichen.
  • Ich verstehe das Zusammenspiel von Exploit- und Explore und vertraue darauf, dass der richtige Modus zum richtigen Zeitpunkt zum Einsatz kommt.

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